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Die Musiker Die Instrumente Interview Texte für Veranstalter
Budowitz Interview
entnommen vom CD: Mother Tongue, Koch Schallplatten
Welche Rolle spielt die Geige in der Musik der Klezmorim?
Die Violine war bis zum späten 19. Jhdt. das typisch “jüdische” Instrument und wurde, als die Militärmusik sich ausbreitete, durch die Klarinette als Hauptmelodieinstrument ersetzt. Die Schallplattenindustrie im Amerika der 20er Jahre, dem goldenen Zeitalter der Klezmeraufnahmen, bevorzugte auch die Blasinstrumente wegen ihrer größeren akustischen Durchsetzungskraft. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, daß sich die Musiker bei Aufnahmen rund um den Trichter des Aufnahmegerätes stellten, sodaß die Musiker, die weiter hinten standen, auch schlechter gehört wurden. Die lauteren Instrumente hatten einen orchestraleren Charakter. Vor dieser Zeit war meistens der Geiger der Leiter des Ensembles und spielte auch die erste Stimme. Wenn eine zweite Geige oder Bratsche verwendet wurde, fungierte sie als Begleitinstrument mit vielen Doppelgriffen und rhythmischem Spiel. Man nannte dieses Instrument auch die Sekundageige.
Ab wann wurde dann die Klarinette eingesetzt?
Ca. ab 1830. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, daß der Vorläufer der modernen Klarinette, das Clarino der Barockzeit entwickelt wurde, um die virtuosen hohen Trompetenstimmen der Kirchenmusik zu spielen. Das Wort Clarino bedeutet eigentlich kleine Trompete. Es ist ironisch, daß ein Instrument, dessen Wurzeln in der Kirchenmusik liegen, zum Symbol der Musik der Klezmorim wurde. Die Klarinette wurde von den Klezmorim wahrscheinlich wegen ihrer Fähigkeit, die menschliche Stimme nachzuahmen und auch deswegen bevorzugt, weil sie leicht erhältlich war. Durch die napoleonische Armee von Norden und durch die osmanischen Janitscharengruppen von Süden ins zaristische Rußland gebracht, fand das Instrument Eingang in viele verschiedene Volksmusiken. Die Blütezeit des Klarinettenbaus war in der Mitte des 19. Jhdts., als Instrumente in fast jeder Tonart hergestellt wurden. Klezmorim des späten 19. Jhdts. bevorzugten die C- und die Es-Klarinette. Obwohl die C-Klarinette ein akustisch unvollkommenes Instrument ist (es ist schwieriger auf ihr in temperierter Stimmung zu spielen), setzt sie sich angenehm im Ensemble durch und hat einen sanften weinerlichen Charakter, der sich sehr gut für die Musik der Klezmorim eignet. Natürlich mögen wir die intonationsmäßigen Eigenheiten des Instrumentes.
Du bist einer der wenigen Tsimblspieler in der heutigen jüdischermusikszene. Wurde die Tsimbl überhaupt früher in der Musik der Klezmorim verwendet?
Natürlich! Es gibt genügend Beweise, das Klezmerensembles das Tsimbl seit dem 16. Jhdt. verwendet haben. Das Tsimbl ist ein sehr flexibles Instrument, daß man gleichermaßen als Melodie, und auch als Begleitinstrument einsetzen kann. Vor 1870 bespannte man Tsimbls mit dünneren Saiten und weniger Spannung im Gegensatz zu den großen und kleinen rumänisch-ungarischen Cymbaloms von heute, die noch immer mit Klaviersaiten und einer barbarischen Saitenspannung gebaut werden. Diese Bauart begann als Versuch, das Cymbalom auf die Konzertbühnen zu bringen. Liszt schrieb für das Instrument und auch Stravinsky setzte es mehrere Male in Les Noces, Ragtime und Renard, obwohl er in Renard eigentlich versuchen wollte, das unerhältliche russische Gusli zu imitieren, welches eigentlich ein gezupftes Psalterium ist.
Wie bist du zu deinem Stil gekommen? Du spielst ja nicht nur im rumänischen oder ungarischen Stil.
Tsimbl Spieler aus früheren Zeiten neigten dazu, ihre Schläger zwischen dem zweiten und dritten Finger zu halten, und nicht zwischen Daumen und erstem Finger, wie es Cymbalomspieler gewöhnlich machen. Das allein führt zu anderen Schlagtechniken. Auch habe ich die Stimmung meines Instruments nach historischen Modellen aus dem 18. und 19. Jhdt. entworfen, Modelle, die sicher auch von Juden verwendet wurden. Der Instrumentenbauer Alfred Pichlmaier hat wundervolle Arbeit geleistet, indem er für mich ein historisches Instrument materiell und konzeptuell rekonstruiert hat. Das Endprodukt ist schließlich das Resultat jahrelanger gemeinsamer Forschungen. Ich lasse mich durch das Instrument in meiner Spielpraxis führen. Die Konstruktion und der Klang eines Instruments sind sehr wichtige bestimmende Faktoren bei der Entwicklung jeder Art von Stil. Natürlich habe ich frühe jüdische Tsimblaufnahmen aus meiner Sammlung gehört, analysiert und transkribiert. Doch ich beschränke mich nicht nur darauf. Da das verfügbare Material nicht ausreicht, muß man innerhalb der musikalischen Sprache kreativ werden und sie weiterentwickeln.
Und wie setzt ihr die Akkordeons ein?
Es ist unglaublich, um wieviel besser man auf den alten Instrumenten verzieren kann. Unsere Instrumente wurden 1889 und zu Jahrhundertwende hergestellt, das ist uralt für ein Akkordeon, und die Arbeit, sie zu bekommen und zu restaurieren, hat sich sicher ausgezahlt. Materialien wie Knochen, Ziegenleder, Holz und Messing ergeben einen viel wärmeren und flexibleren Klang. Wir erhalten oft Kommentare, daß sie nicht wie Akkordeons klingen. Die Idee der freischwingenden Zunge und einer Luftmasse, die durch einen Balg bewegt wird, ist eigentlich sehr alt, daher passt der archaische Klang der Instrumente sehr gut in unser Klangkonzept. Unsere Instrumente sind weich und sanft, und doch haben wir die ältere Aesthetik so weit internalisiert, daß wir genau das gleiche machen was Musiker früher getan haben: Wir legen die Innenseite des Instrumentes mit Zeitungspapier aus, um es zu dämpfen. Heute scheint das unglaublich wenn man daran denkt, daß die gesamte Entwicklung des Akkordeons und der Musik im allgemeinen in Richtung lauter und größer geht. Das frühe Akkordeon, wie fein es auch immer für unsere zeitgenössischen Ohren klingen mag, war für die Leute des 19. Jhdts. schrill genug, sodaß sie manchmal versuchten, den Klang durch Zeitungspapierdämpfung weicher zu machen. Manchmal brauchen wir ein lauteren Klang, daher dämpfen wir nicht immer. Aber es zeigt uns immerhin, wie sehr sich unsere modernen Ohren, von denen unseren Vorfahren unterscheiden.
Hast du frühe Beispiele von Akkordeonmusik in deiner Sammlung?
Genügend. Viele von ca. 1913, die wir gelernt haben und uns darüber hinaus entwickelt haben. Wir bauen unseren Sound und unsere Technik nach der menschlichen Stimme auf, und unsere ganzes Fingersatzkonzept ist danach ausgerichtet. Ähnlich wie die Cembalisten vor Bach, verwenden wir im Grunde genommen drei Finger, wobei wir den Daumen einschließen. Der vierte Finger ist als “Khrekhtsfinger” reserviert, indem er oft zum Anspielen der Note über der Hauptmelodie verwendet wird, um diesen weinenden Schluchzereffekt zu erhalten. Der fünfte Finger wird nur in “Notfällen” verwendet.
Bei Budowitz finden wir statt den Kontrabaß ein Cello. Warum?
Auf den meisten der früheren Abbildungen von Klezmorim sieht man ein Cello, welches oft um die Hüften des Musikers gebunden ist, was ihn zu gehen befähigt. Kontrabässe findet man nur selten auf Abbildungen. Übereinstimmend mit Beschreibungen verschiedener Schriftsteller des 19. Jhdts., die über den Kontrabaß berichten, haben wir entdeckt, daß in verschiedene Volksmusiken, der Baß als erbarmenswertes Ungetüm angesehen wurde. Er war bestenfalls dazu fähig, eine rhythmische Funktion zu übernehmen. Die Stimmung war so schwierig zu halten, daß er oft bis zu einem Halbton tiefer lag als der Rest des Ensembles. Wahrscheinlich bevorzugten die Klezmorim das ein wenig höhere und flexiblere Cello, oder Bassetl, sowie Bassinstrumente manchmal genannt wurden, als Bassinstrument. Das Hinzunehmen des Cellos war eine wichtige Entdeckung für uns, da es eine wundervoll klare Baßfunktion einnehmen kann, und zugleich aber auch grazil genug ist, die Tenorlinien zu übernehmen, die oft von Ventilposaunen gespielt wurden. Aus dem gleichen Grund ist es für das Cello auch möglich, Melodieparts zu übernehmen und auf eine Art zu verzieren, von der Kontrabassisten nur träumen können.
Was inspirierte dich, auch das Shtroyfidle zu benützen?
Ich habe das Leben von Michael Josef Guzikow studiert, den Virtuosen des frühen 19. Jhdts., der ganz Europa mit seinem primitiven Xylophon begeisterte. Er hat es “Holz- und Strohinstrument” genannt, weil die Holzstäbe dabei auf einem Strohbett liegen. Das ist ein aufregendes Kapitel in der Geschichte der jüdischen Musik. Guzikow wurde von den jüdischen Musikwissenschaftlern des frühen 20. Jhdts. als “The Klezmer who made it big” hochgejubelt, eine Art Paganini des Xylophons, der ganz Europa bereiste, und Leute wie Mendelssohn, Chopin und Lamartine beeindruckte. Das mag stimmen, doch die vielen Legenden, die ihn umranken, wie sein Tod auf der Bühne in Aachen mit seinem Instrument in den Händen, zeigen den Stil musikalischer Promotion des 19. Jhdts., in dem das Leben eines Musikers und seine Musik komplett verklärt gesehen wurden. Ich bin Guzikow auf einigen seiner Konzertrouten geographisch gefolgt und habe viele faszinierende Dokumente entdeckt. Ich habe sein Instrument von einem Steierischen Bauern nachbauen lassen, man kann den selben Instrumententypus in den entlegenen Regionen der Alpenländer finden. Durch alte Aufnahmen von der Musik der Klezmorim mit Xylophon in unserer Sammlung und ausgehend von Beschreibungen von Guzikows Spielweise und auch durch meine Erfahrungen mit dem Tsimblspiel, war ich in der Lage, die musikalische Verwendungsweise dieses Instruments zu rekonstruieren. Ich hoffe auch noch dieses Jahr mit der “authentischen” Biographie von Guzikow fertig zu werden.
Alle Instrumente von Budowitz sind potentielle Melodieinstrumente. Wie arbeitet ihr mit diesem Faktum in eurem Arrangements?
Nach Lust und Laune. Nein, doch das ist eigentlich nicht ganz unwahr. Klezmermelodie ist wie ein jüdisches Gespräch: Jeder spricht zur gleichen Zeit. Der einzige Unterschied ist, daß wir alle auf einander hören, und im Grunde genommen das gleiche sagen. Das ist Heterophonie. Die Klezmermelodie in einem Ensemble wird in Oktaven aufgeteilt. Nämlich so, daß in der unteren Oktave eine einfachere, mehr schleichende Version als in der oberen Oktave gespielt wird. Manchmal grenzt das an Chaos. Aber ohne Chaos würden wir nicht hier sein. Also hat die Musik der Klezmorim dann einen metaphysischen Aspekt. Doch damit ist nicht gemeint, daß man sich mit jedem, mit dem man will, in Schlamm wälzt, aber angenommen, daß du diese Aussage als Freibrief für Promiskuität versteht, wie sie auch gemeint war, solltest du auf jeden Fall vorsichtig sein.
Für die Musik der Klezmorim scheinen Verzierungen extrem wichtig zu sein. Gibt es da eine Beziehung zu Barockornamentation?
Wenn es keine gibt, sollte es eine geben. Der ganze Umfang der Figurenlehre des Barockgeneralbasses existiert in Fülle in der Musik der Klezmorim, eingeschlossen alle Variationen von Diminution und Augmentation. Das einzige was fehlt, ist ein Lehrbuch über das Thema, welches es aufwerten würde. Doch weil es sich um einen Stil oder Stile handelt, die hauptsächlich mündlich und über das Gehör überliefert wurden, hat es nie einen Bedarf gegeben, das ganze System zu kodifizieren. Wie frühe und vorbarocke Instrumentalmusik bezieht die Musik der Klezmorim ihren melodisch ornamentalen Stil von vokaler Musik. Der Unterschied liegt darin, daß Chazzones , das ist der Synagogengesang, die Basis ist, von der die Musikalischen Gesten der Musik der Klezmorim ausgehen, und das schließt eine Liste von Vokalismen ein, die wörtliche Nachahmungen von Weinen und Seufzen sind, die wir “Khrekhtser” nennen. Nachdem wir mit einem Mitglied des Cleméncic Consorts gespielt haben und uns in langen nächtlichen Diskussionen über die Ähnlichkeiten ergangen sind, kamen wir zu dem Schluß, daß die Verzierungskonzepte des mittleren Ostens in Wirklichkeit die Basis des Barockstils bilden. Doch wenn ein typisch klassisch trainierter Viellspieler, zum Beispiel, einen Nachschlag spielt, wird er ihn wahrscheinlich wie einen instrumentalen Nachschlag und nicht wie einen vokalen Nachschlag spielen, wie es in der Musik der Klezmorim sein würde. Der Unterschied ist der, daß der Nachschlagton in der Barockmusik gehört wird, wohingegen er in der Klezermermusik gestoppt, oder geschluckt wird, so, wie wenn man weint, und dabei die Luft stoßhaft ausatmet. Es wäre spannend, Barockmusik auf diese Art interpretiert zu hören, doch dann würde man sicherlich in Verdacht geraten, die Musik zu judifizieren.
Ihr sprecht über eure Musik wie Musikwissenschaftler!
Ja, aber nur deswegen, weil du uns so gefragt hast und warum sollen wir nicht unsere Gedanken über unsere Musik aussprechen? Tatsächlich haben alle von uns die Folter einer klassischen Ausbildung überlebt und können aus unerklärlichen Gründen immer noch musizieren. Unsere Rettung war, daß wir uns früh genug die Finger mit anderer Musik dreckig gemacht haben. Wir sind vom Wesen her genauso Straßenmusiker wie Konzertmusiker und haben schon oft genug bei rauschenden Hochzeitsfesten aufgespielt. Unser musikalischer Weg ist nicht der des geradlinigen, klassischen Kastraten.
Wie arbeitet ihr eigentlich mit dem Rhythmus?
Rhythmus, was ist das? Wie schreibt man dieses Wort? Nachdem wir sowohl frühe europäische Klezmeraufnahmen- die frühesten datiert man ungefähr um 1910- als auch klassische Aufnahmen und Myriaden anderer Volksmusiken dieser Zeit untersucht haben, sind wir daraufgekommen, daß die Art mit Rhythmus umzugehen in den letzen 80 Jahren eine radikale Revolution erfahren hat. Im Klartext gesprochen heißt das: Das Konzept eines präzisen, regulären und konstanten Schlages war dem ästhestischen Empfinden des europäischen Musikers vor der Zeit der Herrschaft der kommerziellen Schallplattenindustrie grundsätzlich fremd.
Willst du damit sagen, daß Musikkonzerne musikalische Veränderungen erzwingen?
In der frühen Zeit der Schellackaufnahmen beinflußte sogar die Aufnahmesituation an sich das musikalische Endprodukt: Beschränkte Aufnahmezeiten (2-4 Minuten pro Plattenseite), und eine nur begrenzte Möglichkeit, fehlerhafte Aufnahmen durch nochmaliges Einspielen zu korrigieren. Die Musiker reagierten auf diese Einschränkungen und Schallplattenfirmen, die von Natur aus utilitaristisch und kommerziell strukturiert sind, verlangten von den Künstlern Perfektion bei der Arbeit. Das Publikum wurde dadurch mit der Zeit verwöhnt und die Erwartung der Perfektion (diese Killer eines natürlichen Wachstums) wurde selbstverständlich. Das ist eine starke Vereinfachung, doch die Dynamik dieser Entwicklung hat sich nicht wesentlich verändert. Als wir letztes Jahr im Studio des Berliner Rundfunks aufgenommen haben, erzählte uns der dortige Techniker, daß 24 Stunden Studiozeit gebraucht wurden, um 8 Takte eines Konzerts, daß vom Rundfunksynfonieorchester eingespielt wurde, aufzunehmen. In einer solchen Klangfabrik werden alle Ecken und Kanten abgeschliffen.
Wie geht Budowitz mit diesen Tatsachen um?
Zurück zur Natur. In früherer Musik wurde die Melodie im Verhältnis zur Begleitung oft beschleunigt oder auch verzörgert, so stark, daß manchmal Unterschiede bis zu einem halben Schlag vorkamen. Das hat eine schöne Art rhythmischer Spannung zur Folge, die man heute kaum noch hören kann, obwohl viele Jazzmusiker noch immer wissen, wie man vor oder nach dem Schlag spielt. Wir machen davon häufig Gebrauch, besonders in kleineren Besetzungen, sowie in den Duo- und Triostücken innerhalb von Budowitz. Es gibt verschiedene Arten, wie man damit umgehen kann. So kann zum Beispiel, der Solist über ein stabiles Begleitmuster vor oder nach dem Schlag spielen. Auch der Begleitmusiker kann eine Art unregelmäßigen Puls spielen, indem er die Begleitung nicht auf dem Schlägen spielt, wohl aber vor oder nach ihnen, der Schlag bleibt dabei stabil, doch weil man nicht exakt auf ihm spielt, ist der Effekt ein schwankender Charakter. Wir nennen dieses Phänomen “implied beat” [angedeuteter Schlag]. Manchmal beschleunigen oder verlangsamen wir bestimmte Teile oder Takte, manchmal kommen wir zum Originaltempo zurück, doch oft lassen wir die Musik ihren eigenen Weg gehen und versuchen, die Unterschiede der Tempi nicht zu kompensieren.Dieses Kompensieren ist übrigens eine der absurdesten Ideen, die auf unserem Planeten geboren wurden.
Glaubst du, daß die Musiker von damals wirklich bewußt mit dem Rhythmus so umgegangen sind, wie das bei Budowitz der Fall ist?
Wenn man jemals zum Tanz aufgespielt hat, versteht man, daß rhythmische Flexibilität eine Vorbedingung dafür ist. Manchmal, kommt die Bobe [Großmutter] auf die Tanzfläche, dann muß man das Tempo drosseln, und manchmal setzen einem die Tänzer schwer zu, und man muß einen Zahn zulegen. Diese Art von Flexibilität ist das, was man auf diesen alten Aufnahmen hört. Klarerweise sprangen damals keine Tänzer im Studio herum, doch die gesamte Haltung der Musiker war flexibler. Wir müssen das nicht eins zu eins simulieren, doch wir haben früher unseren Instinkt für Flexibilität auf der Konzertbühne unterdrückt, um eine “saubere” Vorstellung zu liefern. Die Antwort auf deine Frage ist: Für damalige Musiker war es nicht notwendig, mit Rhythmus so bewußt wie wir umzugehen. Doch ist das eigentlich eine Fehlbenennung, wenn man sagt, die ganze Musik der Klezmorim war und ist Tanzmusik. Es gibt eine Fülle von noch nicht erforschten Arten konzertanter Musik, die wir gerade neu entdecken. Ich nenne das das klassische jüdische Genre. Rhythmische Unregelmäßigkeit ist eine Konstante, auch im Konzertrepertoire.
Wie geht ihr mit der melodischen Phrasierung um?
Schon wieder einer dieser lang verschollenen Parameter der Improvisation. Der Reichtum der Improvisation der frühen Klezmorim fand seinen Niederschlag in dauernd wechselnden Phrasierungen der Melodie. Diese Musik meidet Symmetrie. In unseren Workshops haben die Musiker die größten Schwierigkeiten, ihre Phrasierungen zu varieren, doch wenn man einmal gelernt hat auf dieser Art zu spielen, kann man nicht mehr damit aufhören, und man muß wirklich aufpassen, daß man nicht zu wild asymmetrisch wird.
Was ist da Geheimniss von Budowitz bezüglich der Harmonisierungen?
Das Geheimnis ist, daß wir es nicht tun. Diese Musik ist von Natur aus aharmonisch. Was nicht heißen will, daß keine Harmonien vorkommen; sie kommen vor, doch wir versuchen nicht eine Melodie in Harmonien zu pressen und wir versuchen auch nicht, Dissonanzen zu glätten, in dem wir sie mit konsonanten Harmonien polstern. Die Modi der Musik der Klezmorim enthalten natürliche Dissonanzen wegen ihrer Intervalle. Ein hohes Maß der melodischen Spannung ist ein Resultat der Reibung zwischen einer dissonanten Note in der Melodie und der Baßstimme. Wenn man das mit einer Konsonanz harmonisiert, geht dabei die schöne Spannung verloren. Diese Musik ist heterophon. Das heißt in weiterem Sinn, daß alles von der Melodie kommt. Unser Begleitfiguren wachsen direkt aus der Melodie, dadurch werden die Arrangements genauso vielfältig wie die Melodien. Wir erhalten auf diese Art eine Menge von Melodieverdoppelungen in verschiedenen Oktaven und zu verschiedene Zeiten. Das ist eine sehr essentielle Facette des Klezmerensembleklangs. Wir gehen damit nicht so streng um, doch: manchmal verwenden wir eine Dorftrottelbegleitung mit einem Akkord pro Abschnitt, welche angenehme plebeische Dissonanzen erzeugt. Es ist verrückt, wir finden jetzt reich harmonisierte Klezmermelodien banal, wohingegen uns katatonisches Aushämmern eines g-moll Akkordes 24 Takte lang nicht stört. Wir kneten immer den Rhythmus, daher sind wir auch nicht gelangweilt, obwohl dieser g-moll Akkord nicht Mutterns neuestes Rezept ist, weil auf einer anderen musikalischen Ebene etwas passiert. So, jetzt ist es kein Geheimnis mehr.
Wie kommt ihr zu eurem Repertoire?
Wir besitzen eine große Sammlung von frühen Aufnahmen, nicht nur solche aus New York, sondern auch aus Bukarest, Warschau, Lemberg, Kiew und Moskau, die uns, obwohl sie am Beginn dieses Jhdts. aufgenommen wurden, einen sehr guten Einblick in den Stil des 19. Jhdts. vermitteln. Das hat seinen Grund darin, daß stilistische Veränderung früher langsamer von statten gingen als jetzt, wahrscheinlich sind daher der Stil des frühen 20. Jhdts. und der des späten 19. Jhdts. nicht sehr verschieden. Weiters verwenden wir sowohl Manuskripte als auch Transkriptionen europäischer Musikwissenschaftler jüdischer Musik der 30er Jahre. Auch stellen wir viele vergleichende Forschungen mit anderer Volksmusik an, wie z.B. rumänische, Sinti-Roma, ukrainischer Musik, etc.
Hat die Musik der Klezmorim einen Bezug zur Volksmusik dieser anderen Regionen und Völker?
Dieser Bezug ist eigentlich so stark, daß die Musik der Klezmorim und diese anderen Volksmusiken unzertrennbar sind. Natürlich gibt es heute nur mehr ganz wenige Juden in diesen Länder, sodaß die fruchtvolle Interaktion, die man früher finden konnte, kaum noch existiert. Doch es ist eine bekannte Tatsache, daß Juden und besonders Zigeuner für- und miteinander gespielt haben und oft das gleiche Repertoire hatten. Noch immer kann man heute in Osteuropa Zigeuner finden, die jüdisches Repertoire kennen, und ich glaube, daß die verschiedenen Gruppen einander sich stilistisch kannten und verstanden. Die gleiche Dynamik musikalischer Interaktion und Veränderung kann dadurch verstanden werden, in dem man einen Blick auf die meisten amerikanischen Klezmerbands wirft, die heute eine Mischung zwischen jüdischer Musik und Jazz, Rock, Musik des mittleren Ostens, und allen möglichen Stilrichtungen verfolgen. Es ist der gleiche Prozess, nur die Variablen sind andere.
Seht ihr euch selber als Museumsartifakt?
Wir würden uns so sehen, wenn uns das zu einem Teil des Museumseintrittsgeldes verhelfen würde. Aber im Ernst, wir sehen uns selbst nicht so aus zwei Gründen: Erstens, die Leute lieben unsere Musik und reagieren darauf gleich, wie sie auf modernere Interpretation von der Musik der Klezmorim reagieren; Und zweitens deswegen, weil wir konstant mit der Sprache der Musik arbeiten, sie entwickeln, sie ausdehnen und in ihr improvisieren, etc. Eigentlich ist nur unserer Ausgangspunkt ein anderer, als in den meisten Fällen. Auf eine gewisse Art sind wir auch avantgardistischer als unsere Zeitgenossen, weil wir eine wirklich andere Richtung gehen, die zu komplett anderen Resultaten führt.
Spielt ihr gerne in anderen Klezmerbands, und hört ihr sie gerne an?
Sicher! Tatsächlich haben alle von uns in zeigenössischeren Bands gespielt, wie Brave Old World zum Beispiel. Wir lieben was wir machen, aber wir brauchen dafür kein Dogma.
Budowitz